Was vor der Annahme kommt


Was vor der Annahme kommt



Immer wieder ist zu hören, dass das Leben einfach ist, wenn wir es annehmen. Wenn wir alles annehmen, wie es kommt, dann finden wir Stille, Klarheit und inneren Frieden.


Meine Erfahrung ist, dass das eher wie eine weitere Forderung klingt, die wir erfüllen sollen. Und die Frage taucht auf, wie soll das gehen, das Annehmen, wenn ich voller Wut, voller Trauer und anderer Gefühle bin, die ich ja gar nicht haben will, die weggehen sollen.


Doch vor der Annahme, oder sogar anstatt, geht es darum, dass wir uns erlauben zu spüren, was ist. Wie genau fühlt sich das an, was im Moment in mir stattfindet? Wo fühle ich es im Körper? Welche inneren Bilder, Farben oder Klänge tauchen auf? Und wie kann ich es noch genauer spüren, ganz spüren, es ganz da sein lassen. Genauso, wie es gerade ist, wie immer es sich auch anfühlt und wie schwer es gerade ist, genau das zu fühlen. Auch diese Schwere oder dieser Widerstand dagegen darf da sein, darf gefühlt werden. Hier und jetzt geht es nur darum, dass wir uns erlauben zu spüren, was im Moment ist und wie es im Moment ist, nicht mehr und nicht weniger.


Es geht nicht darum, dass wir es bewerten, uns überlegen, darf ich das, will ich das, ist das erlaubt oder stimmig. Es geht auch nicht darum, dass wir mit Liebe darauf schauen, es annehmen, es verwandeln, oder dass es dadurch besser wird. Es geht nur darum, es zu spüren, in allen Facetten und Farben, Bildern und Tönen, inneren und äußeren Körperwahrnehmungen und- bewegungen, die entstehen.


Nichts sonst, nur wahrnehmen und für wahr nehmen, allem Raum geben, was da ist, in diesem einen Moment. Nichts zählt; nicht das, was war, nicht das, was sein wird. Es gibt nichts zu tun, es genügt, zu sein und zu spüren. Das, was ist, in mir selbst. Und alles darf sein, jeder Schmerz, jede Freude, jede Trauer, jedes Wohlgefühl, jede Schwere, jede Leichtigkeit, alles, was ich fühle, fühlen kann, darf sein.


Ich erlebe immer wieder bei mir und meinen KlientInnen, wie sich dadurch etwas öffnen kann, ein innerer Raum, in dem ich einfach sein darf; so, wie ich bin. Ich muss nicht anders sein, nicht besser, nicht ruhiger oder gelassener, nicht energiegeladener oder leistungsfähiger. Nein, ich heiße mich selbst in mir willkommen, genauso, wie ich in diesem Moment bin. Ich lasse zu und spüre mich.


Und wir können üben, dieses im Moment sein, in diesem Moment das zu fühlen, was ist, immer mehr in unser Leben zu integrieren. Hier ist am Anfang und immer mal wieder zwischendurch Unterstützung von außen sehr hilfreich.


Durch dieses Üben, das Üben des NichtTuns, das Üben des DaSeins mit dem, was sowieso da ist, entsteht ein immer tieferer Zugang zu uns selbst, zu unseren inneren Kräften, zu all dem Wunderbaren, das in uns ist. Und darüber hinaus können wir dadurch den Kontakt zu dem unberührbaren und immer heilen Raum in uns herstellen. Aus diesem Raum heraus können wir freier sein, freier handeln, nicht mehr nur reagieren, sondern agieren und uns immer wieder aus innerer Freiheit für oder gegen etwas entscheiden. Und gerne auch annehmen…


Hier noch eine kleine Übung, mit der ich immer wieder gerne experimentiere:

Stell dir vor, auf deiner Schulter sitzt ein kleiner Engel, der, was auch geschieht und wie immer es dir damit geht, zuflüstert:

Das darf sein… Und das darf auch sein… Und auch dieses darf sein…



Patricia Oefelein


(Veröffentlichung Ginkgo 11/12 2016)