Zwischen Bindung und Autonomie


Zwischen Bindung und Autonomie

Wie oft denken wir: das schaffe ich schon selber - ich muss das alleine hinbekommen.

Wie oft gibt es innere Stimmen, die uns sagen: du darfst niemanden mit deiner Angst belästigen - du bist es nicht wert, Unterstützung zubekommen.

Wie oft haben wir Angst, andere Menschen zu bitten zuzuhören, uns bei etwas zu helfen.

Doch tatsächlich sind wir gar nicht für ALLEIN geschaffen, vom Beginn unseres Lebens an geht es um Bindung und Zugehörigkeit. Ohne die würden wir gar nicht überleben können.


Und doch gibt es diese inneren Stimmen. Vermutlich hast du die in der ein oder anderen Form in deiner Kindheit gehört, wahrscheinlich von deinen Bezugspersonen, die aus verschiedenen Gründen nicht in der Lage waren, dich in deiner Einzigartigkeit und Schönheit zu sehen und willkommen zu heißen.

Doch das brauchen wir am Anfang unseres Erdenlebens immer und immer wieder: Beziehung, Halt, Spiegelung, Coregulierung, Gesehen werden und ganz viel bestätigenden, nichts wollenden, liebevollen Körperkontakt.

Haben wir das nicht oder im nicht ausreichenden Maß erfahren oder sind sogar mit seelischer oder körperlicher Misshandlung aufgewachsen, mussten wir viele Anteile von uns verstecken, abschneiden und einfrieren. Das geschah unbewusst und war unglaublich intelligent, denn damit konnten wir in unserem (Familien-)system buchstäblich überleben.

Das ist dir, liebe Leserin, lieber Leser, bis heute gelungen! Vielleicht ist es gerade stimmig, dir in diesem Moment eine Anerkennung dafür zukommen zu lassen: ein tiefer Atemzug, ein Schulterklopfen, eine Selbstumarmung.

Doch dadurch konnten wir die Erfahrung, dass wir auf dieser Welt erwünscht sind, so wie wir sind, und dass wir immer Unterstützung bekommen dürfen, nicht (ausreichend) machen. Und auch kein tiefes Gefühl für sicheres Gebundensein entwickeln.

Ohne dieses im Körper gut verankerte Gefühl ist es schwierig, dein ganzes Potential, dein einzigartiges Sosein zu entwickeln.

Wir sind unser ganzes Leben lang unterwegs zwischen Bindung und Autonomie: Bindung gibt Sicherheit (um den Preis der Anpassung) und Autonomie Freiheit (mit der Möglichkeit, ich selbst zu werden). Auf dieser Wippe bewegen wir uns von Anfang an.
Das ist an kleinen Kindern gut beobachtbar: Aus der Sicherheit, die durch die wohlwollende Bindung an die Bezugsperson erfahren wird, entwickelt sich der Mut, sich zu entfernen und die Welt zu erforschen. Sobald es sich dort unsicher anfühlt, kehrt das Kind zurück zur sicheren Bezugsperson.

Im Idealfall kann sich diese Information im Körper gut verankern und wir gehen so recht leicht und anpassungsfähig weiter durch unser Leben. Wir haben gute Erfahrungen mit sicherer Bindung gemacht, sie verinnerlicht oder eher verkörpert und sind in der Lage auf Menschen und Situationen zuzugehen, um Unterstützung zu fragen und Kontakt aufzunehmen. Wir können mit verschiedenen Situationen umgehen, auch wenn es komplex, vielleicht sogar schwierig wird.

Hiergehört als weiterer Punkt auch die Selbstwirksamkeit dazu. Sie lässt uns, nachdem wir bereits in der Kindheit erfahren haben, dass wir Aufgaben gewachsen sind und Hindernisse überwinden können, Vertrauen in uns selbst und unsere Kompetenz haben. Und die Selbstwirksamkeit kann sich nicht entwickeln, wenn keine Autonomiemöglich ist, weil wir keine sichere Bindung haben.

Ohne diese verkörperte Erfahrung von Zugehörigkeit und Bindung, kommen wir immer wieder in Situationen, in denen Gedanken, Stimmen und Gefühle laut werden, die uns nicht in Kontakt gehen lassen mit anderen Menschen, denn es scheint sicherer und ungefährlicher, es alleine zu machen.

Und wie kann es weiter gehen, wenn ich irgendwann bemerke, dass das Leben oder bestimmte Situationen so alleine ganz schön anstrengend und überfordernd sind?


Zum Glück können wir uns nachnähren mit der Erfahrung sicherer Bindung, absichtslosem Körperkontakt und Gesehenwerden. Denn es ist altersunabhängig möglich, sogenannte korrigierende Erfahrungen zumachen.

Menschen(und innere Anteile) beginnen zu heilen, sobald sie sich gesehen fühlen.
Verena König


Manchmal ist das bereits in der Kindheit möglich, mit einem zugewandten Lehrer, einer wohlwollenden Trainerin, einer liebevollen Nachbarin oder sonst einem freundlichen Menschen.

Vielleicht ist dafür auch professionelle Unterstützung sinnvoll, bereits früh in der Kindheit oder auch später, im Erwachsenenleben.
Durch die korrigierenden Erfahrungen in der Begleitung können wir mehr und mehr unserer versteckten und abgeschnittenen Anteile ins Leben zurückholen.


Um damit immer vollständiger, lebendiger und freudiger hier zu sein.

Je mehr wir die Erfahrung der Sicherheit, des absichtslosen Körperkontakts und der grundlegenden Ungefährlichkeit* machen können, desto leichter fällt es uns, in Kontakt zu gehen, Bindungen mit anderen Menschen einzugehen und für uns selbst zu sorgen.

Und wir können wechseln zwischen Alleinsein, Zweisamkeit und Gemeinschaft. Zwischen Bindung und Autonomie, die beide gleichwichtig sind, um unser Leben kraftvoll, leicht und voller Freude zu leben.


Vielleicht kannst du fühlen, was möglich wäre in deinem Leben, wenn du die (körperliche) Erfahrung des Gesehen- und Gefühltwerdens machen darfst?
Wie würde sich dein Leben anfühlen, wenn eingefrorene Bereiche in dir behutsam und entschleunigt auftauen dürfen?
Wie ist dein Leben, wenn alle Facetten von dir willkommen und erwünscht sind und du genügst, wie du bist?

Nimm dir gerne ein wenig Zeit, um auf deine (Körper-)resonanzen zu lauschen. Vielleicht tauchen auch Bilder oder Gefühle auf…

*Ungefährlichkeit bedeutet nicht, dass es keine realen Gefahren mehr gibt. Hier geht es darum, wahrzunehmen, dass die im Körper gespeicherte Erfahrung der Gefahr (Nichtbeachtung, Misshandlung, …) aus der Vergangenheit stammt und wir einen Check machen können, wie es jetzt gerade ist.

Hierbei kann dich die folgende Übung, die Auswirkungen auf dein autonomes Nervensystem haben wird, unterstützen:


Orientierung im Raum
Lass deine Augen langsam durch den Raum schweifen, schau dir alles genau an (Objekte, Farben, Oberflächen, Materialien), bewege gerne auch deinen Kopf langsam in alle Richtungen und orientiere dich in der Umgebung, in der du dich gerade befindest. Nimm dir Zeit, und schaue, als wärst du das erste Mal an dem Ort, an dem du gerade bist.
Vielleicht magst du auch wahrnehmen, wie sich dein Körper davor und danach anfühlt.



Ginkgo-Veröffentlichung 05/06 2024